Ein Gastbeitrag über die aktuelle Situation unserer Gesellschaft im Umgang mit geflüchteten Menschen vor unseren Toren

Heribert Prantl, Kolumnist bei der Süddeutschen Zeitung, trifft mit seinem Newsletter vom 8. März 2020 zur Situation der Geflüchteten aus den Kriegsgebieten in Syrien genau den Nerv:

„Guten Tag,

wenn Sie eine Mutter wären in der zerbombten syrischen Stadt Idlib, was würden Sie tun? Idlib war einst eine Provinzstadt mit offiziell 160 000 Einwohnern; nun leben hier eine Million Menschen, im Chaos. Idlib wird von einem islamistischen Bündnis kontrolliert. Raketen schlagen ein. Die Truppen Assads, unterstützt von der russischen Luftwaffe, stehen wenige Kilometer vor der Stadt. Das Regime betrachtet die Menschen in Idlib als Landesverräter, auch die Zivilisten, auch Frauen und Kinder. Angst geht um, schreckliche Angst. Beobachter bezeichnen die Region als Killbox. Wenn Sie eine Mutter wären, was würden Sie tun? Sie würden, irgendwie, irgendwo, mehr Sicherheit suchen. So viel Sicherheit wie möglich. Vor allem für Ihre Kinder.

Vierhundert Kilometer Beton


Idlib-Stadt ist dreißig Kilometer von der türkischen Grenze entfernt. Dort hat Erdoğan eine vierhundert Kilometer lange Betonmauer bauen lassen, um Flüchtlinge aufzuhalten. Türkische Soldaten schießen auf Menschen, die hinüberklettern wollen. Dutzende von Zeltstädten sind vor dieser Mauer entstanden.

Wenn Sie als Familienvater mit Ihren Kindern in einer dieser windigen und eiskalten Zeltstädte hausen müssten, die sich dort gebildet haben – was würden Sie tun? Die Böden sind matschig von Regen und Schnee. Um sich vor dem Frost zu schützen, heizen die Flüchtlinge in ihren Zelten. Es sind nicht wenige erstickt an Kohlendioxidvergiftung. Kriminalität grassiert, Prostitution. Wenn Sie als ein Vater mit Ihren Kindern dort wären, was würden Sie tun? An mehreren Stellen, so schreiben die Korrespondenten des Berliner Tagesspiegel, wurden Tunnel unter die Betonmauer gegraben. Schmuggler nehmen 300 Euro pro Person. Was würden Sie machen, wenn Sie noch Geld hätten?

Aufgeben, umkehren?

Was würden Sie machen, wenn Sie es als Vater oder Mutter, als Großvater oder Großmutter, mit Kindern und Enkelkindern schon in den letzten Jahren in die Türkei geschafft hätten? Was würden Sie machen, wenn Präsident Erdogan Sie nun aus dem Land weisen, wenn er die Grenzen Richtung Griechenland, Richtung Europa öffnen würde? Sie würden vielleicht doch versuchen, der Not und Perspektivlosigkeit zu entrinnen, irgendwie. Und wenn Sie es versuchen, nachdem Ihnen Schmuggler das letzte Geld, das Handy und die Schuhe abgenommen haben, was würden Sie tun: Aufgeben? Umkehren?

Dreckig-unsichere Sicherheit

Was würden Sie tun, wenn griechische und europäische Sicherheitskräfte Sie mit Tränengas beschießen? Wenn scharf geschossen wird, um Sie am Überqueren der Grenze zu hindern? Und was würden Sie hoffen, wenn Sie auf der Flucht ihre Kinder verloren haben? Was würden Sie hoffen, wenn Sie Kinder irgendwo in dreckig-unsicherer Sicherheit glauben, in einem Lager auf den griechischen Inseln Lesbos, Kos oder Samos? Was wären Ihre ersten Gedanken, wenn Sie überhaupt nicht mehr wüssten, ob und wo Ihre Kinder leben? Was wären Ihre letzten Gedanken, wenn Sie, als Familie zersprengt, spüren, dass es mit Ihnen selbst zu Ende geht nach all den Strapazen?

Aus den Augen, aus dem Sinn

Der Deutsche Bundestag hat einen Antrag der Grünen abgelehnt, wenigstens Frauen und unbegleitete Kinder aufzunehmen und aus dem Dreck und der Not der Flüchtlingslager auf den griechischen Inseln zu erlösen. CDU/CSU und SPD warten lieber auf europäische Initiativen, auf europäische Lösungen. Diese angeblichen europäischen Lösungen beruhten bisher auf dem jetzt gescheiterten Deal mit dem türkischen Präsidenten Erdoğan und auf dem Motto: „Aus den Augen, aus dem Sinn.“

Was soll mit den Geflüchteten geschehen? Was sollen wir, was soll der Deutsche Bundestag, was soll die deutsche und die europäische Politik, mit Ihnen machen? Die Antwort auf diese Frage ist eine Schlüsselantwort: Handeln wir, wie wir behandelt werden wollten, wenn wir Flüchtlinge wären.

Wenn wir Flüchtlinge wären

Es ist dies eine Ur-Regel, die aurea regula, die Goldene Regel. Als Sprichwort lautet sie so: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu.“ Niemand würde es wollen, dass man auf ihn oder seine Kinder mit Tränengas schießt. Niemand würde es wollen, dass er oder seine Kinder im Flüchtlingslager auf den griechischen Inseln verkommen. Auch Alexander Gauland und Alice Weidel würden das nicht wollen, auch die Pegidisten würden das nicht wollen.

Handeln wir so, wie wir behandelt werden wollten, wenn wir Flüchtlinge wären: Die Konsequenz aus dieser Regel waren und sind die Flüchtlingskonventionen, die Charta der Menschenrechte, die Europäische Grundrechte-Charta. Es ist ein gewaltiger Fortschritt, dass es all dies gibt. Es war ein historischer Fortschritt, dass sich also die Völker und die Nationen verpflichtet haben, Flüchtlinge zu schützen. Aber das Papier allein schützt die Flüchtlinge nicht. Im Angesicht der Not der Flüchtlinge aus Syrien und aus den Hunger- und Bürgerkriegsländern Afrikas muss sich zeigen, ob diese Konventionen mehr sind als ein Wasserfall von Phrasen.

Wenn europäische Kernländer Menschen in höchster Not nicht aufnehmen, weil sie angeblich den falschen Glauben oder die falsche Kultur oder Hautfarbe haben – dann ist das ein Hochverrat an den Werten, deretwegen die Europäische Union gegründet wurde, und ein Vorwand für verbrecherische Hitzköpfe, vermeintliche Notwehr zu üben gegen die Flüchtlinge.

Menschenwürde ist nicht aus Seife

Europa lebt nicht nur vom Euro; es lebt von seinen Werten, von der Glaubens- und Gewissensfreiheit, der Freiheit der Person, der Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz und der Freizügigkeit. Europa lebt davon, dass es die Menschenwürde schützt. Die Menschenwürde ist nicht aus Seife, sie nützt sich nicht ab, nur weil es angeblich zu viele sind, die sich auf sie berufen.

Handeln wir so, wie wir selbst behandelt werden wollten, wenn wir Flüchtlinge wären. Dieser Satz löst das „survival of the fittest“ ab. Nicht Stärke und Anpassungsfähigkeit sind es, die das Leben sichern – nein, die Geltung des Rechts ist die Lebensversicherung. Wer das Recht, auch das Recht der Flüchtlinge, abwehrt, der verwandelt die Gesellschaft in ein Haifischbecken. Das Wesen des Rechts besteht darin, dass es aus dem Haifischbecken eine Gesellschaft formt.

Für Jedermanns Alltag

Handeln wir so, wie wir selbst behandelt werden wollten, wenn wir Flüchtlinge wären. Dieser Satz ist also nicht nur eine Grundlage für die Gewissenserforschung von Staats- und Kommissionspräsidenten, von Ministern, Parlamentsabgeordneten und Parteipolitikern, er ist nicht nur moralische Handlungsanleitung für den politischen Betrieb und für Jedermanns Alltag. Handeln wir, wie wir behandelt sein wollten: Es ist dies eine Maxime, die Recht schafft.

Handeln wir, wie wir behandelt sein wollten, wenn wir Flüchtlinge wären: Als moralischer Imperativ allein trägt nämlich der Satz nicht. Denn die Vorstellung, selber so ein elender schutzbedürftiger Mensch zu sein, kann geradezu die Unmoral anstacheln, diese Vorstellung kann den Impuls verstärken, die Fremden abzuwehren, weil man den Anblick der Hilflosigkeit nicht erträgt. Es ist jedoch gerade das Recht, das verhindern soll, dass man selbst schutz- und hilflos wird. Das zu erklären, ist Aufklärung. Und diese Aufklärung ist nie zu Ende. Sie ist immer und immer wieder notwendig, weil das Recht nicht einfach da ist und dableibt, sondern immer wieder erkannt und verteidigt werden muss. 

Hin- und hergerissen zwischen Ja und Nein und Aber

Die Gesellschaft in Deutschland ist – wie die in ganz Europa – hin- und hergerissen zwischen aufgeklärter Hilfsbereitschaft einerseits und Ratlosigkeit, Abwehr und Hetze andererseits. Viele sagen Ja zu den Flüchtlingen, darauf folgt, in verschiedener Größe, ein Aber; die Größe des Aber hängt auch und vor allem davon ab, wie die Politik agiert. Sie agiert nicht mit entschlossener Humanität, sie agiert mit Ausreden; wenn es um Hilfe geht, wartet jeder europäische Staat, bis der andere anfängt.

Es gibt eine immer giftigere flüchtlingsfeindliche Szene, die nicht nur „Aber“ sagt, sondern zu deren Kommunikationsmitteln Unverschämtheiten, Morddrohungen und Brandsätze gehören. Man darf sich nicht einschüchtern lassen von denen, die Gift und Galle spritzen und Brandsätze werfen, von denen, die nicht die Zivilgesellschaft, sondern die Unzivilgesellschaft repräsentieren. Es gibt auch Zigtausende von Menschen in Deutschland, die den Flüchtlingen helfen beim Deutschlernen, beim Umgang mit den Behörden, beim Fußfassen in diesem Land. Von ihnen soll sich die Politik beeindrucken lassen. Sie handeln nach der Regel: Handeln wir, wie wir behandelt werden wollten, wenn wir Flüchtlinge wären.

Ein Anti-Verzweiflungsfest

Viele EU-Regierungen träumen von einer Festung Europa – ohne daran zu denken, dass eine Festung ohne geöffnete Zugbrücken verfällt und verrottet. Wohlstand und Werte sollen, so die EU-Festungsfreunde, drinnen, die Not soll draußen bleiben. Die Festungsfreunde verkennen, dass es Werte nicht einfach gibt, sondern dass Werte nur dann etwas wert sind, wenn sie in der Not eingelöst werden. Es geht um das Ende der Globalisierung der Gleichgültigkeit.

Handeln wir so, wie wir selbst behandelt werden wollen – das ist ein gutes Motto zumal für die Wochen bis Ostern. Dann wird aus Ostern das, was Ostern sein soll: ein Anti-Verzweiflungsfest. Das wünscht Ihnen und uns
 
Ihr 
Heribert Prantl
Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung

Kommentar verfassen

Artikel kommentieren


* Pflichtfeld

Mit der Nutzung dieses Formulars erklären Sie sich mit der Speicherung und Verarbeitung Ihrer Daten durch diese Website einverstanden. Weiteres entnehmen Sie bitte der Datenschutzerklärung.

Verwandte Artikel